Weniger ist mehr

Herbert Thill: "Es geht um den Spagat zwischen einer nachhaltigeren Ernährung und einer Verpflegung, die eng an der Biographie der älteren Tischgäste ausgerichtet ist." Foto: Thill
Redaktion 25.07.2022 MAGAZIN  |  Konzepte  |  Küchenmanagement

Als ausgebildeter Heimkoch und Küchenmeister für Vollwert-Ernährung UGB mit langjähriger Berufserfahrung ist Herbert Thill in der Seniorenverpflegung zu Hause. Im Interview erläutert der Experte, worauf es bei einer modernen und bedarfsgerechten Verpflegung von Senior:innen besonders ankommt.

KÜCHE: Herr Thill, welche Trends gibt es aktuell in der Seniorenverpflegung, die für Profiköchinnen und -köche besonders relevant sind?
HERBERT THILL: Derzeit bin ich mit dem Thema „Zurück zum Sonntagsbraten“ unterwegs, und das in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE). Es geht um den Spagat zwischen einer nachhaltigeren Ernährung und einer Verpflegung, die eng an der Biografie der älteren Tischgäste ausgerichtet ist und diese damit sozusagen „mitnimmt“. Wir können nicht „weiter so“ handeln. Aber wir können und dürfen den Seniorinnen und Senioren nicht das Fleisch komplett streichen. Vielmehr müssen wir eher ein alternatives Angebot unterbreiten, in dem Fleisch eine untergeordnete Rolle spielt. 

Was heißt das konkret?
Beispiel: Cordon Bleu. Hier gehen wir den Weg der Minimalisierung. Der Schinken mit dem Käse wird nicht in ein Schnitzel gepackt, sondern mit einer Kartoffel-Rösti-Masse umhüllt und goldbraun gebraten. Oder wir bereiten Gemüseaufläufe mit Kartoffeln und nur etwas Speck zu. Andere Rezepte wie Hackfleisch können mit gewolften weißen, weich gegarten Bohnen oder mit Grünkernschrot gestreckt werden. Auf diese Weise wird Fleisch in der gewohnten Vielzahl vermieden. 

Wie können Küchen- und Verpflegungsverantwortliche am besten auf die explodierenden Preise für Lebensmittel, Energie und Ähnliches reagieren, damit ihnen der Ausgleich zwischen betriebswirtschaftlichen Notwendigkeiten und hohen Qualitätsanforderungen gelingt?
Nachhaltigkeit ist da ein bedeutsames Stichwort. Als Erstes können wir sagen, dass Nachhaltigkeit längst kein Tabuthema mehr ist. Köchinnen und Köche machen sich in den Zeiten der Preisexplosionen noch intensivere Gedanken darüber, wie sie Energie sparen können. 

Was raten Sie zum Beispiel?
Maschinen und Geräte sollten immer voll genutzt werden. Konvektomaten werden am besten in der benötigten Größe gekauft, um nicht in einem großen Konvektomaten nur ein bis zwei Bleche Gargut zu garen. Wärmewagen sollten nicht schon morgens bei Betriebsbeginn angestellt werden. Und wenn doch, sollten sie zum Garen genutzt werden. Soll heißen: Der Energieaufwand sollte tatsächlich ausgeschöpft werden, nach dem Motto „Weniger ist mehr“. 

Oder ein anderes Beispiel: Rezepte und Menüangebote lassen sich so gestalten, dass die Arbeitsschritte optimal an die Nutzung der Geräte angepasst werden. Es hilft auch, wenn Rezepte so optimiert sind, dass wir nicht nur produzieren, sondern auch immer die richtige Portionsgröße planen. Das vermeidet Nassmüll. Insgesamt gilt: Planung, Einkauf und Produktion sollten laufend überprüft werden. Und gegebenenfalls muss gegengesteuert werden. Aber dazu braucht es selbstverständlich Fachkräfte, die ihr Handwerk verstehen.

Wie positionieren Sie sich zu den Essenslieferdiensten beziehungsweise Essen auf Rädern?
Lassen Sie mich mit einer Gegenfrage antworten: Macht es noch Sinn, täglich warmes Essen auf die Straße zu bringen, das dann noch viel zu lange gegart und warmgehalten wurde? Ich meine: Nein. Vielmehr sollte die Cook-and-Chill-Produktion im Vordergrund stehen, damit nährstoffreichere Kost angeboten werden kann. Das Regenerieren vor Ort kann auf unterschiedliche Weise vonstattengehen: Induktionstabletts, Öfen und Mikrowelle sind drei der Varianten. So kann es gelingen, das Essen für mehrere Tage beim Kunden in einer Lieferung zu bringen. Das spart Benzin und Arbeitszeit, die an anderer Stelle sinnvoller genutzt werden kann.

Herr Thill, Sie haben sich in der Branche auch dadurch einen Namen gemacht, dass Sie gemeinsam mit Ihrem Kollegen Markus Biedermann „Smooth-Food“ entwickelt haben. Dabei geht es um die Problematik der Kau- und Schluckbeschwerden?
Genau. Zuerst einmal sollte man wissen, dass Kau- und Schluckbeschwerden häufig vorkommen. Die Ursachen sind zum Beispiel Zahnverlust, Lähmungen im Gesichtsbereich oder Kiefergelenksschmerzen. An diesen Problemen leiden rund 40 Prozent der Menschen in Pflegeheimen, 95 Prozent der Schlaganfallpatienten in der Akutphase, 50 Prozent der Morbus-Parkinson-Patienten und 72 Prozent der an Demenz Erkrankten. Für die Betroffenen bedeutet das eine eingeschränkte Lebensmittelauswahl und eine meist schmerzhafte Nahrungsaufnahme. Gleichzeitig steigt die Gefahr der Mangelernährung.

Und wie kann Smooth-Food Abhilfe schaffen?
Bei Smooth Food ist es nun so, dass Speisen auf Basis moderner Texturgeber hergestellt werden. Sie haben verschiedene Aggregatzustände. Das Spektrum reicht von passiert über sämig-flüssig bis hin zum fluffigen Schaum. Die Kostformen Fingerfood und „eat by walking“ sind vor allem für Demenzkranke mit starkem Bewegungsdrang konzipiert, während die kompakten Schäume Patienten mit Schluckstörungen eine neue Lebensqualität bieten sollen. 

Eine appetitliche, fast authentische Optik der Mahlzeiten aus Gemüse, Fisch oder Fleisch lässt sich dadurch erreichen, dass Smooth-Food-Silikonformen verwendet werden. Solche Silikonformen lassen sich übrigens auch für Muffins und Terrinen aus der Patisserie nutzen. Generell müssen die Köchinnen und Köche bei Smooth-Food-Kostformen darauf achten, dass nur hochwertige, frische Lebensmittel mit ausreichend Mineralstoffen, Vitaminen und Proteinen verarbeitet werden. Ausschließlich schonende Garverfahren erhalten genügend Nährstoffe und sichern die gewünschte Qualität. Man muss sich die Lebensmittel also genau anschauen, damit sie seniorengerecht weiterverarbeitet werden können.

Diese Art der Verpflegung richtet sich also deutlich an den Bedürfnissen der Seniorinnen und Senioren aus. Aber inwieweit wird das in den Senioreneinrichtungen auch tatsächlich praktiziert? 
Da besteht noch ganz viel Luft nach oben. Meist gibt es einen Speiseplan, von dem behauptet wird, dass er gemeinsam mit den Bewohnerinnen und Bewohnern aufgestellt wurde. Oft wird er aber nur mit dem Heimbeirat abgestimmt und der Küchenchef präsentiert in diesem Rahmen seine Kochwünsche. Außerdem stehen auf vielen Speiseplänen Produkte, die nicht seniorenbezogen sind.

Meine Erfahrung: Die Seniorinnen und Senioren sind gar nicht anspruchsvoll. Wenn man ihnen einen vernünftigen Salat mit einer Vorspeise bietet – beispielsweise eine schöne Suppe, die gut schmeckt, aber auch von den Nährwerten her gehaltvoll ist – und dann noch Kartoffelpuffer mit Apfelmus serviert, dann ist mehr erreicht, als wenn Currygeschnetzeltes auf den Tisch gelangt, nur weil das möglicherweise gerade im Trend liegt. 

Ein ganz wichtiger und entscheidender Faktor ist, darauf zu achten, was Seniorenernährung eigentlich ist und was die Bewohner wollen. Und dann sollte die Köchin beziehungsweise der Koch so fair sein und schauen, wie er diese Gerichte nährwertreich zubereitet. 

Abschließende Frage: Wie definieren Sie eine moderne, wettbewerbsfähige, der Zukunft zugewandte Seniorenverpflegung?
Das Angebot muss mehr an die Wünsche und Belange der Seniorinnen und Senioren angepasst werden. Verpflegungskonzepte müssen überarbeitet werden. Und Tagesstrukturen gilt es zu reformieren. Die Bewohnerin, der Bewohner ist der Kunde. Hier bedarf es mehr Wertschätzung. Ein weiterer herausragender Aspekt: Wir benötigen Fachkräfte nicht nur in der Pflege, sondern auch in der Verpflegung. Die Herausforderung besteht also in einem berufsübergreifenden Ernährungsmanagement, das einer Seniorenverpflegung mit Genuss dient.


Sieben Schritte zu einer bewohnerorientierten Verpflegung

1. Berücksichtigen Sie die Wünsche und Bedürfnisse der Heimbewohner.

2. Wenden Sie sich hin zu einem positiven Menschenbild. Was kann der Bewohner? Das sollten Sie fordern und fördern.

3. Sie sollten überprüfen, was Sie für oder mit dem Heimbewohner tun und was er noch alleine macht: Wo kann er bei der alltäglichen Arbeit helfen?

4. Arbeiten Sie integrativ mit allen Abteilungen zusammen und stimmen Sie sich über den ganzen Tag so ab, dass Sie flexible Essenzeiten einbauen können. Bestenfalls können Sie die Präsenz von Küche, Hauswirtschaft, Betreuung, Pflege und auch Ehrenamt über einen ganzen Tag besser ausnutzen und planen (zum Beispiel Wohnbereichsplan aus allen Abteilungen zusammenstellen).

5. Gestalten Sie Ihren Speiseplan nährwertreich, ohne dabei auf die Wünsche der Bewohner zu verzichten: Das fängt schon beim Frühstück an.

6. Nehmen Sie sich ein Beispiel am Zitat von George Bernard Shaw: „Der einzige Mensch, der sich vernünftig benimmt, ist mein Schneider. Er nimmt jedes Mal neu Maß, wenn er mich trifft, während alle anderen immer die alten Maßstäbe anlegen in der Meinung, sie passten auch heute noch.“

7. Bedenken Sie, dass wir nicht nur für das verantwortlich sind, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun. Konkret: Arbeiten Sie tiefgründig, um frühzeitig mögliche Defizite zu erkennen und ihnen zu begegnen.

1. Berücksichtigen Sie die Wünsche und Bedürfnisse der Heimbewohner.

2. Wenden Sie sich hin zu einem positiven Menschenbild. Was kann der Bewohner? Das sollten Sie fordern und fördern.

3. Sie sollten überprüfen, was Sie für oder mit dem Heimbewohner tun und was er noch alleine macht: Wo kann er bei der alltäglichen Arbeit helfen?

4. Arbeiten Sie integrativ mit allen Abteilungen zusammen und stimmen Sie sich über den ganzen Tag so ab, dass Sie flexible Essenzeiten einbauen können. Bestenfalls können Sie die Präsenz von Küche, Hauswirtschaft, Betreuung, Pflege und auch Ehrenamt über einen ganzen Tag besser ausnutzen und planen (zum Beispiel Wohnbereichsplan aus allen Abteilungen zusammenstellen).

5. Gestalten Sie Ihren Speiseplan nährwertreich, ohne dabei auf die Wünsche der Bewohner zu verzichten: Das fängt schon beim Frühstück an.

6. Nehmen Sie sich ein Beispiel am Zitat von George Bernard Shaw: „Der einzige Mensch, der sich vernünftig benimmt, ist mein Schneider. Er nimmt jedes Mal neu Maß, wenn er mich trifft, während alle anderen immer die alten Maßstäbe anlegen in der Meinung, sie passten auch heute noch.“

7. Bedenken Sie, dass wir nicht nur für das verantwortlich sind, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun. Konkret: Arbeiten Sie tiefgründig, um frühzeitig mögliche Defizite zu erkennen und ihnen zu begegnen.

Quelle: Herbert Thill


ÜBER HERBERT THILL

Thill kochte nach seiner Ausbildung in einem Hotelbetrieb zunächst zehn Jahre im Ausland, bevor er ab Mitte der Neunzigerjahre Küchenleiter im Alten Wohn- und Pflegeheim Christkönig in Bad Wildungen wurde. Der Experte für Seniorenverpflegung mit Zusatzausbildung Heimkoch ist außerdem seit 15 Jahren in der Erwachsenenbildung tätig, etwa beim Verband für unabhängige Gesundheitsberatung (UGB). Zu seinen Spezialgebieten gehören Speiseplangestaltung, Kostformen und die Heimkochausbildung. Thill ist Mitbegründer von smoothfood® fünf Sterne für die Heimküche und seit 2011 Gourmet Küchenmeister für Vollwert-Ernährung UGB.
www.kostkonform.de  


Mehr zum Thema Seniorenverpflegung finden Sie in der aktuellen KÜCHE 7/2022.