Herbert Thill ist Experte für Seniorenernährung und Sonderkostformen. Im Interview erläutert der erfahrene Koch, wie sich die pflanzenbasierte Küche auch in der Seniorenverpflegung etablieren lässt.
KÜCHE: Herr Thill, Menüangebote in der Seniorenverpflegung sind immer noch fleischlastig. Häufig wird das mit der Essbiografie der älteren Menschen erklärt. Wie ist Ihre Sichtweise?
HERBERT THILL: Das Thema Fleisch wird immer noch sehr hoch gehängt, weil die meisten Kolleginnen und Kollegen in den Küchen noch nicht auf unserer Seite sind, was nachhaltige und pflanzenbasierte Menüangebote angeht. Meine Erfahrung ist, das Fleisch für die alten Menschen meist gar nicht der wichtigste Punkt ist, sondern es ist die Sauce, die gut schmecken muss. Fleisch bleibt sogar häufig auf dem Teller zurück, weil Senior*innen es nicht gut beißen oder kauen können. Je mehr man auf Fleisch kaut, desto trockener wird das. Schon zu meiner Zeit als Küchenleiter habe ich mich gefragt: Warum bieten wir das eigentlich noch an?
Was halten Sie für angemessen?
Ich habe damals schon eine Portionsgröße von 50 bis 70 Gramm für ausreichend befunden. Das Fleisch muss dann aber sehr zart sein. Wir könnten ja mal überlegen, ob es jeden Tag Fleisch sein muss oder ob wir die Ernährungsempfehlungen so auslegen, dass wir sagen: Zurück zum Sonntagsbraten. Das würde auch der Planetary Health Diet entgegenkommen, die etwa 300 g Fleisch pro Woche empfiehlt, die Deutsche Gesellschaft für Ernährung liegt bei 280 g - für alle Mahlzeiten, natürlich ergänzt um weitere Proteinlieferanten. Die Basis ist pflanzenbetont mit einem hohen Anteil an Gemüse, Getreide- und Vollkornprodukten, Kartoffeln, Hülsenfrüchten und Nüssen.
Macht es Sinn, ältere Menschen zu neuen Ernährungsgewohnheiten zu bewegen?
Auf jeden Fall. Ich weiß aus Erfahrung, sowohl persönlich und als auch aus meiner Arbeit als Küchenleiter in einem Seniorenheim, dass eine gute pflanzenbetonte Ernährung große gesundheitliche Vorteile mit sich bringt. Das gilt für jedes Alter. Natürlich müssen wir die älteren Menschen auf diese Reise mitnehmen und nicht einfach sagen „Wir nehmen Dir das Fleisch vom Teller.“ Wir müssen auch insgesamt viel bewusster mit tierischen Lebensmittel umgehen, denn sie brauchen deutlich mehr Ressourcen als Pflanzliche. Mir ist Nachhaltigkeit absolut wichtig, denn wir verbrauchen derzeit 3,2 Welten, wenn wir so weitermachen wie bisher. Ich möchte Seniorinnen und Senioren da abholen, wo sie schon mal waren, wo sie Fleisch weniger, aber bewusster konsumiert haben. Wir müssen aufräumen mit den Relikten aus den 1970er Jahren, wo Fleisch uns als ein Stück Lebenskraft verkauft wurde. Ich erlebe oft Einrichtungen, die jeden Tag Fleisch anbieten, aber dafür das Billigste nehmen, was der Markt zu bieten hat. Da wird das Hähnchenfleisch zum Hustensaft. Gerade in der kostensensiblen Seniorenverpflegung möchte ich dazu motivieren, Fleisch weniger, dafür aber in besserer Qualität anzubieten.
Was ist für eine pflanzenbetonte Speiseplanung wichtig?
Es muss lecker schmecken und es darf kein Mangel- oder Verzichtsgefühl entstehen. Ich muss immer darauf achten, dass ich den Nährstoffbedarf decke und Gerichte mit einer hohen Nährstoffdichte anbiete. Besonders wichtig ist die Eiweißkomponente als Proteinlieferant, die aber nicht unbedingt tierischen Ursprungs sein muss. Gute pflanzliche Eiweißquellen sind Hülsenfrüchte, Pseudogetreide, Vollkorn, Nüsse und Saaten. Was viele Küchen noch zu wenig berücksichtigen, ist die geschickte Kombination dieser Komponenten. Das führt zu einer höheren Eiweißqualität, die der von Fleisch sehr nahekommt.
Sie kennen die Argumentation: Alte Menschen reagieren mit Unverträglichkeiten auf Vollkorn und Hülsenfrüchte. Was können Sie dem entgegensetzen?
Die meisten Menschen haben das Verdauen von Ballaststoffen verlernt. So haben Hülsenfrüchte die letzten 30 Jahre ein Schattendasein geführt, Linsen und Bohnen waren ein „Arme-Leute-Essen“, auch Vollkorn war lange verpönt. Davon sind wir heute weit entfernt, wenn wir uns die breite und hochwertige Produktpalette anschauen. Küchen müssen experimentieren und diesen Weg gemeinsam mit ihren Gästen gehen: Was lässt sich umsetzen, wo ist die Akzeptanz am größten? Bei neuen Menükomponenten sind Kostproben wichtig und die Küche muss Zeit einplanen, dass sich die Menschen umgewöhnen können. Ich habe erlebt, dass ein Hirsebrei mit frischem Kompott das klassische Schnitzel in der Beliebtheit um Längen geschlagen hat.
Wo wird die Reise in der Seniorenverpflegung hingehen?
Die Zeit des traditionellen Speiseplans ist vorbei. Wir müssen Seniorenverpflegung neu denken, damit wir den unterschiedlichen Bedürfnissen und Bedarfen gerecht werden können. Heute bieten wir allein bei zwei Auswahlmenüs innerhalb von sieben Tagen 82 Komponenten an, die die Küche herstellen muss. Das macht keinen Sinn mehr. Ich halte ein optimiertes und flexibles Komponentenangebot für die beste Lösung, bei dem pflanzliche Komponenten die Basis bilden, die optional mit tierischen Lebensmitteln ergänzt werden können.
6 Tipps von Herbert Thill
für die pflanzenbasierte Seniorenverpflegung
- Mit beliebten und bekannten Gerichten beginnen, diese neu interpretieren und optimieren. Beispiele: Mehle aus Hülsenfrüchten in Gemüse-Creme-Suppen oder Saucen als Bindemittel einsetzen. Teilausgemahlenene Mehle oder Vollkornmehl verwenden, z. B. in Pfannkuchen.
- Das Basisessen rein pflanzlich gestalten. So können es alle Gäste essen – unabhängig von Essgewohnheiten und Glaubensrichtung. Dem Gast die Wahl lassen, das Menü aus verschiedenen pflanzlichen Komponenten (z. B. mehrere Salate, Gemüse- und Stärkekomponenten) in Kombination mit Milchprodukten oder pflanzlichen Milchalternativen zusammenstellen zu können, optional ergänzt um Fleisch oder Fisch.
- Gerichte durch Farben in Szene setzen, z. B. mit Kurkuma und Roter Bete. Besonders das Würzen ist ausschlaggebend. Möglichst immer alle fünf Geschmacksrichtungen (salzig, süß, sauer, bitter und umami) miteinander vereinen.
- Verschiedene Texturen und Konsistenzen anbieten, z. B. mit Toppings aus Nüssen und Samen, Krusten und Crumbles.
- Pflanzliche Aufstriche selbst zubereiten. Diese sind attraktiv, günstig im Wareneinsatz und reduzieren Verpackungsmüll. In Gemüsebrühe gekochte Rote-Linsen lassen sich mit Rapsöl als Mayonnaise hochziehen und als Ergänzung zu pflanzlichen Bratlingen servieren.
- Lebensmittelreste vermeiden! Nicht überproduzieren, immer nach Bedarf portionieren. Auf Ausgabesysteme setzen, die flexible Portionsgrößen ermöglichen.
HERBERT THILL
Der erfahrene Koch hat sich auf Seniorenernährung und Sonderkostformen spezialisiert. Nach Abschluss der Meisterschule leitete er viele Jahre die Küche eines Wohn- und Pflegeheims. Heute führt Thill die Firma Kostkonform, die sich unter anderem mit der Beratung und Konzeptentwicklung für Sonderkostformen beschäftigt. Zusätzlich ist er als Rezept- und Produktmitentwickler sowie als Referent in der Erwachsenenbildung tätig.