"Essen ist eine kulturstiftende Handlung"

„Ein Gericht darf einfach sein, aber nicht banal – somit ist es seinen Preis wert" - Foto: Hagen
Thomas Klaus und Petra Münster 18.11.2024 MAGAZIN  |  Karriere  |  AKTUELLES  |  News

Der Koch, Küchenmeister und Caterer Dietmar Hagen tritt für eine Betriebsgastronomie ein, die auf Handwerk und den Wert frischer Lebensmittel setzt. Im Interview äußert sich der Geschäftsführer von „Essenszeit“ zur Wirtschaftlichkeit anspruchsvoller Konzepte und einer Betriebsgastronomie, die Menschen zusammenbringt und Arbeitgebermarken stärkt.

KÜCHE: Herr Hagen, mit Ihrem Konzept „Mehr-Wert-Ernährung“, das unter anderem in der Kantine von Bahlsen angeboten wird, möchten Sie die Betriebsgastronomie „neu definieren“. Was ist das Besondere daran?
DIETMAR HAGEN: Bei unserem Konzept geht es mir um die Frage: Was ernährt den ganzen Menschen? Es geht dabei um einen hohen Anteil an Bio-Lebensmitteln, um die ernährungsphysiologische Ausgewogenheit der Gerichte, um die Frische und Vollwertigkeit der Zutaten. Und ganz besonders steht die gekonnte Zubereitung im Mittelpunkt, also das Kochhandwerk mit Hinwendung und Kreativität. 
Eine weitere Zutat ist eine authentische Gastgeberkultur. Dabei spielt die Aufenthaltsqualität des jeweiligen Ortes in Verbindung mit Gastlichkeit eine 
wesentliche Rolle. Entscheidend für die besondere Qualität ist auch das, was wir nicht machen: Wir verwenden zum Beispiel kein Suppenpulver und keine 
Fertigsaucen. Denn wir wollen keinen Mono-Geschmack. Wir verwenden keine Fertigprodukte und nur minimal Tiefkühlprodukte – auch nicht in Bio-Qualität. So wird das gute Essen – „gut“ kommt ja von „Güte“ – zu einem genussvollen Medium, welches die Menschen zusammenbringt. Dann wird der „Tisch“ zur sozialen Plattform. So können substanzielle, lustige oder auch bedeutungsvolle Gespräche entstehen. Das Essen verbindet und schafft einen „Mehr-Wert“, in jeder Hinsicht. Genuss, Wohlbefinden und positive Energie durch das Essen gehören auf diese Weise zusammen.

Bei einem so anspruchsvollen Konzept muss auch die Wirtschaftlichkeit gewährleistet sein. Wie schaffen Sie das?
Das schaffen wir mit einem Dreiklang aus Gast, Auftraggeber und unserem Unternehmen, der Essenszeit. Der Gast schätzt die Abwechslung und den Genuss. Aber vor allem bekommen wir als Rückmeldung ein deutlich spürbares „Wohlbefinden“ nach dem Essen. Das bedeutet, dass die meisten Gäste den „Mehr-Wert“ schätzen und bereit sind, für hochwertiges Essen einen Beitrag zu leisten beziehungsweise etwas mehr zu bezahlen.
Mit Blick auf den Auftraggeber ist zu sagen: Der „Mehr-Wert“ wird bezuschusst und ist für unsere Kunden ein wichtiger Teil der Unternehmenskultur. Weitere Aspekte: Das Essen wird als Bestandteil des Gesundheitsmanagements angesehen. Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden gestärkt. Durch die Vorfreude auf das Essen werden die Beschäftigten zusätzlich motiviert. Genuss und Ernährungskompetenz werden verbunden, das Tischgespräch als soziale Plattform genutzt. Das alles drückt Wertschätzung des Auftraggebers beziehungsweise Arbeitgebers für die Beschäftigten und die Gäste aus.  Dies bedeutet, dass sich die Auftraggeber mit einer guten Arbeitgebermarke am Arbeitsmarkt aufstellen können. Essen ist eine kulturstiftende Handlung. Sie sehen: Allein den Preis für ein Essen zu bewerten, ist zu kurz gesprungen.

Und hier kommt ebenfalls die „Essenszeit“ ins Spiel?
Richtig. Bei uns ist der Menüplan in seiner Gesamtheit immer auch auf Wirtschaftlichkeit ausgerichtet. Da sind die Ablauforganisation, der Wareneinsatz und die Kreativität gefragt. Hinzu kommen die kontinuierliche Schulung unserer Mitarbeiter und Entwicklung unserer Küchenteams. Es gilt: Ein Gericht darf einfach sein, aber nicht banal – somit ist es seinen Preis wert. Zugleich ist es ein bedeutsamer Punkt, dass die Köche aufgrund der Dominanz von vorgefertigten Lebensmitteln und Fertigprodukten nicht unter Identitätsverlust leiden dürfen, denn die Leidtragenden sind immer die Gäste. Bei uns ist so etwas ausgeschlossen. Ein kontinuierlich hohes Qualitätsniveau der Speisen erfordert das Einbeziehen, Motivieren und Schulen aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Küche. Übrigens setzen wir in der Küche auch schwächere Menschen ein, solche mit 
Behinderung oder Menschen in der Resozialisierung. In einem stabilen und gut eingespielten Team ist das mehr als ein „Goodwill“, sondern stärkt die Gemeinschaft, weil dadurch der respektvolle und behutsame Umgang täglich miteinander geübt wird. 

Warum empfehlen Sie, Tiefkühlprodukte so wenig wie möglich einzusetzen? 
Nun, sie sind zwar bequem, aber das hat seinen Preis. Frisches Gemüse zum Beispiel hat eine knackigere Textur und einen intensiveren Geschmack, besonders wenn es saisonal und regional angebaut wurde. Dann bietet es auch die höchste Nährstoffdichte. Es ist auch eine Frage der Sensorik.

Sie plädieren auch dafür, „den ganzen Schatz der Getreidesorten in den verschiedensten Formen“ zu heben. Wie setzen Sie das um?
In unseren Küchen kommen die verschiedensten Getreide zum Einsatz. Von Dinkel, Hirse, Quinoa, Grünkern bis hin zu Mais oder Gerste. Wir mahlen unser Getreide auch selbst zu Mehl, damit alle Nährstoffe wie der wertvolle Keimling, die Aleuronschicht und die Ballaststoffe für eine vollwertige Ernährung erhalten bleiben. Die hausgemachten Spätzle oder Palatschinken schmecken dann besonders lecker. Ganz zu schweigen von der positiven Ernährungsbilanz.

Wie können Gäste in die Gestaltung der Speisepläne und die Arbeit der Küche am besten einbezogen werden? Welche konkreten Erfahrungen haben Sie damit gemacht?
Besonders beliebt ist unsere Idee, das „Lieblingsessen“ eines Gastes oder das Wunschessen eines Teams aus dem jeweiligen Betrieb zu kochen. Diese Gerichte stehen dann auch gut beschrieben in der Menükarte. Das schafft Identifikation und ist meist ein ganz besonderes Essenserlebnis.

Wie beurteilen Sie die Gesamtsituation in der deutschen Betriebsgastronomie im Hinblick auf eine gesunde und auch nachhaltige Ernährung? Welche Schulnote würden Sie geben? 
Das ist sehr unterschiedlich – alles von Note 1 bis 6! Statt geschmacklicher Vielfalt erleben wir leider oft eine Vielfalt, die vor allem auf Äußerlichkeiten setzt. Begriffe wie nachhaltig, vegan oder regional sind zwar in aller Munde, aber oft fehlen 
das Bewusstsein und das Wissen, wie die entsprechenden Lebensmittel wirken, wie man sie am besten kombiniert und gekonnt zubereitet.
Ein Beispiel: Kürzlich war ich bei einem Beratungskunden eingeladen. Auf der Speisekarte stand veganes Curry mit Reis. Das klingt erst einmal gut. Allerdings wurde das Gemüse (teilweise TK) mit Margarine aus gehärtetem Pflanzenfett 
angebraten. Es wurde kein frischer Ingwer verwendet und auch die guten Gewürze bei der Zubereitung vom Reis wie Sternanis, Nelke oder Lorbeerblatt fehlten. Und die so wichtige pflanzliche Eiweißkomponente war überhaupt nicht vorhanden. Das angebotene Gericht hatte also eine schlechte Ernährungsbilanz. Das führt dazu, dass die Gäste nach zwei Stunden wieder Lust auf etwas Neues und oftmals Ungesundes bekommen. Das ist nicht Sinn der Sache.

Herr Hagen, vielen Dank für das Gespräch



Dietmar Hagen
Dietmar Hagen, gebürtig aus Vorarlberg in Österreich und heute in Hannover ansässig, gründete 2017 das Cateringunternehmen „Essenszeit“. Mit einem Team von 250 Mitarbeitern betreibt er deutschlandweit 35 Kantinen, drei an Standorten des Gebäckherstellers Bahlsen. Darüber hinaus ist Hagen als Berater für Gemeinschaftsverpflegung tätig. Ursprünglich aus der Hotellerie kommend, sammelte er wertvolle Erfahrungen als Koch und Küchenchef im In- und Ausland.

www.essenszeit.com