"Es ist ein Trauerspiel"

Martin Rücker: "Der heutige Preisdumping-­Wettbewerb schadet am Ende allen." Foto: Foodwatch/Rücker
Thomas Klaus und Petra Münster 09.05.2022 MAGAZIN  |  Küchenmanagement

Der Journalist, Buchautor und Verbraucheraktivist Martin Rücker diskutiert in seinem neuen Buch „Ihr macht uns krank“ konkrete Vorstellungen für eine bessere Krankenhausverpflegung. Wir haben den Ex-Geschäftsführer von Foodwatch dazu interviewt.

KÜCHE: Herr Rücker, Sie schreiben in Ihrem Buch: „Krankenhausessen kostet nicht nur Lebensqualität, sondern auch Menschenleben. Das hat mit dem zu tun, was die Menschen am Klinikbett bekommen – und mehr noch mit dem, was sie nicht bekommen.“ Das möchten wir genauer wissen. Was steckt dahinter?
MARTIN RÜCKER: Zahlreiche Studien belegen, dass etwa jeder vierte Patient bei Aufnahme in die Klinik mangelernährt ist. Das bedeutet nicht nur unterernährt. Gemeint ist eine kritische Unterversorgung mit wichtigen Nährstoffen, die auch Übergewichtige betreffen kann. Kommt dann noch eine Erkrankung dazu, hat der Mangel gesundheitliche Folgen. Vor allem in der Inneren Medizin, bei Krebserkrankten und alten Menschen sind die Klinikaufenthalte länger, wenn eine Mangelernährung vorliegt. Es kommt zu mehr Komplikationen, die Heilungsverläufe sind schlechter und die Sterblichkeit höher. 

Das klingt dramatisch. Was tun?
Das lässt sich ändern, wenn in den Kliniken ein konsequentes Ernährungsmanagement betrieben und die Mangelernährung bekämpft würde. Das geschieht jedoch in den wenigsten Kliniken. Tatsächlich verschlimmert sich der Ernährungszustand der Menschen während des Klinikaufenthalts sogar noch. Ein großer Teil der Patienten verliert in dieser Zeit deutlich an Gewicht. An den Köchen liegt das am allerwenigsten – entscheidend sind die Rahmenbedingungen in der Klinik. 

Sie fordern, dass sich die meisten Kliniken hierzulande anders aufstellen müssten. Dabei denken Sie unter anderem an interdisziplinäre Teams mit Ernährungsmedizinern, Ökotrophologen und Diätassistenten. Ist das nicht eher graue Theorie?
Das ist nicht nur graue Theorie. Seit Langem bestätigen Studien immer wieder große Effekte der Ernährungstherapie. Die abschließende Klarheit hat eine große, unabhängige klinische Studie aus der Schweiz gebracht, die 2019 im renommierten Fachjournal The Lancet veröffentlicht wurde. 

Was hat die Studie konkret ergeben?
Die Ergebnisse sind beeindruckend: Patienten, die in der Klinik eine kompetente Ernährungstherapie erhielten, hatten nach 30 Tagen ein um 21 Prozent niedrigeres Risiko für schwerwiegende Komplikationen oder eine deutliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes. Das Risiko, in diesem Zeitraum zu sterben, war sogar um 35 Prozent niedriger als bei den Menschen in einer Vergleichsgruppe, die einfach die übliche Krankenhauskost bekamen. Und das waren nur die Effekte während der kurzen Zeit des Klinikaufenthalts. Wenn auch in Pflegeheimen auf eine bedarfsgerechte Ernährung geachtet würde oder ambulante Patienten bei Bedarf verlässlich eine Ernährungstherapie von ihrer Krankenkasse finanziert bekämen, könnte wohl noch deutlich mehr erreicht werden.

In der Klinik ist die individuelle Betrachtung der Bedürfnisse ganz entscheidend. Ein Patient sollte bei der Aufnahme auf Mangelernährung gescreent, sein Bedarf an Nährstoffen ermittelt, natürlich auch Geschmacksvorlieben berücksichtigt werden – und dann eine auf ihn abgestimmte Kost erhalten, vielleicht auch gezielt angereicherte Zwischenmahlzeiten. Ein gutes Küchenteam kann hier die richtigen Speisepläne entwickeln und umsetzen. Wenn man es nur ließe. 

Zu Ihren Kritikpunkten gehört auch die Rolle der Diätassistentinnen und Diätassistenten an den Kliniken. Oft sind sie der Kostenstelle Küche zugeordnet. Warum sollte sich das Ihrer Auffassung nach ändern?
Das Personal in der Kostenstelle Küche ist für die Verantwortlichen einfach ein Kostenfaktor. Nach dem Nutzen, den es für die Patienten bringt, wird meist gar nicht erst gefragt. Übrigens auch nicht nach dem betriebswirtschaftlichen Nutzen. Denn wenn Diätassistent:innen mit den Patienten arbeiten und die Klinikaufenthalte dadurch verkürzen, die Behandlung vereinfachen können, sparen sie dem Krankenhaus Geld: Es bekommt ja einen Pauschalbetrag pro Fall, egal, wie lange jemand ein Bett belegt und wie aufwendig die Behandlung ist.

Das alles wird in vielen Häusern aber gar nicht gesehen, weil es zwar wissenschaftlich belegt, aber buchhalterisch schwer nachvollziehbar ist. Das Ergebnis ist, dass in vielen Häusern qualifizierte Ernährungsfachkräfte Hilfsarbeiten erledigen müssen. Sie bestücken Tabletts und räumen Lager auf, statt Patienten zu beraten. Es ist ein Trauerspiel. 

Die Krankenhausverpflegung ist Ihres Erachtens unter anderem auch deshalb in einem schlechten Zustand, weil Ernährungsfragen in der medizinischen Ausbildung und Lehre so gut wie keine Rolle spielen. Können Sie das bitte näher erläutern?
Es gibt für Ernährungsmedizin keine Lehrstühle an den Universitäten und keine vorgesehene Unterrichtsstunde in den Medizinstudiengängen. In der Folge wird die Bedeutung der Ernährung und des Ernährungszustandes von Menschen für ihre Gesundheit grotesk unterschätzt. Auch Ärzten fehlt es hier oft an der nötigen Kompetenz. 

„Was mit Essen zu tun hat, gilt an den Kliniken vor allem als Kostenfaktor.“ Das schreiben Sie in Ihrem Buch. Und Sie attestieren einen „brachialen Kostendruck im Gesundheitssystem“. Gesetzt den Fall, dass das so ist: Wie soll sich das ändern?  
Das ist nachweislich so. Die Warenausgaben für Lebensmittel gehen zurück, wenn man das preisbereinigt betrachtet, und die Stellen für Diätassistent:innen ebenfalls. Ich sehe darin eine politische Aufgabe. Bisher gibt es ja noch nicht einmal Qualitätsvorgaben für das Essensangebot an Kliniken. Die Standards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung sollten an allen Krankenhäusern verbindlich gelten.

Zudem muss es feste Stellenschlüssel für Ernährungsfachleute an den Kliniken geben, das Screening auf Mangelernährung zum Standard werden. Patienten brauchen im Bedarfsfall einen Rechtsanspruch auf Ernährungstherapie als Kassenleistung – auch das gibt es bislang nicht. Die Bundesregierung hält dies alles für eine Frage, die sich im Wettbewerb der Krankenhäuser regeln soll. Das tut sie aber nicht, denn der Wettbewerb sorgt nur für eines: für Kostendruck zu Lasten der Qualität und damit am Ende der Patienten. 

Ist die Verlagerung von Küchen hin zu externen Dienstleistern aus Ihrer Sicht grundsätzlich eine schlechte Sache?
Nein. Nur dann, wenn ihr Zweck die bloße Kostenersparnis ist. Natürlich kann auch ein Dienstleister hochwertiges Essen liefern, wenn er das nötige Geld dafür erhält und sich alle Wettbewerber an verbindliche Mindestvorgaben für die Qualität halten müssen. Die würden auch den Caterern helfen. Zudem brauchen sie den Raum, statt zwei oder drei standardisierte Menüs auch ein individuell abgestimmtes Angebot machen zu können. Der heutige Preisdumping-Wettbewerb schadet am Ende allen. 

Abschließend gefragt: Welche Wünsche für eine bessere Verpflegung in den Kliniken haben Sie an die Adresse der Köchinnen und Köche? 
Sie sollten wissen, dass sie einen wesentlichen Beitrag zu der Tatsache leisten können, wie gut die Heilung von Menschen verläuft. Eine Befassung mit Qualitätsstandards und der Studienlage zum Thema Mangelernährung ist sicher hilfreich. Vor allem aber sollte man die Köche zeigen lassen, was sie leisten können, wenn es nicht nur um möglichst billig geht. 


ÜBER MARTIN RÜCKER
Martin Rücker, Jahrgang 1980, lebt als Freier Journalist und Autor in Berlin. Der Verfasser des Buches „Ihr macht uns krank. Die fatalen Folgen deutscher Ernährungspolitik und die Macht der Lebensmittellobby“ arbeitete von 2009 bis 2021 für die Verbraucherorganisation Foodwatch – zunächst als Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, danach als Geschäftsführer. Viel diskutiert wurden unter anderem seine Recherchen zum Lebensmittelkontrollsystem und zum Listerien-Fall in der Wurstfabrik Wilke.
www.martin-ruecker.com